Lektine: Das unterschätzte Geheimnis unserer Ernährung und die Kraft der Wildpflanzen
- Dr. med. Christian Gersch
- 27. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Dr. med. Christian Gersch ist niedergelassener Arzt und spezialisiert auf funktionelle Langlebigkeitsmedizin. In seinem Praxisalltag spielt in Sachen Ernährung die wichtigste Rolle herauszufinden, was seinen Patientinnen und Patienten schadet. Und das sind in erste Linie Lektin. Was ein Lektin ist, das verrät dieser Artikel.

In einer Welt voller Innovationen und Fortschritte gewinnt die Natur immer wieder an Bedeutung – vor allem, wenn es um unsere Gesundheit geht. Ein faszinierendes und dennoch oftmals unterschätztes Thema ist die Rolle von Fraßgiften in unserer Nahrung. Speziell möchte ich Ihnen von sogenannten Lektinen berichten. Rund 30 % aller Pflanzen setzen eines oder sogar mehrere Lektine als ihr Fraßgift ein. Und dummerweise sind diese 30 % ein Großteil dessen, was sich auf mitteleuropäischen Tellern wiederfindet.
Diese Lektine spielen eine bedeutende Rolle im evolutionären Schutzmechanismus der Pflanzen, aber beeinflussen aber auch unsere Gesundheit auf subtile Weise.
Was sind Lektine?
Der Begriff Lektin mutet Lateinisch an, doch die Römer kannten das Wort noch nicht. Es handelt sich um ein in der Neuzeit gebildetes lateinisches Kunstwort und bedeutet übersetzt »Ich binde an«. Lektine sind Proteine, und diese Proteine haben die Fähigkeit, an bestimmte Kohlenhydrate auf Zelloberflächen zu binden. Pflanzen produzieren Lektine typischerweise, um sich vor Insekten, Tieren und Pilzbefall zu schützen. Es ist ein evolutionäres Verteidigungssystem, ähnlich dem, was Tiere durch Flucht, Verteidigung oder Angriff tun.
Zum Grundverständnis: Nichts auf der Welt strebt danach zu sterben – und das gilt auch für Pflanzen. Sie möchten ihre Art weiterverbreiten, und dafür haben sie raffinierte Strategien entwickelt, die sich vor allem in der Produktion von Fruchtkörpern, reifen Früchten oder Samenkapseln manifestieren. So wollen Pflanzen beispielsweise verhindern, dass sie unkontrolliert gefressen werden, und setzen dafür Fraßgifte in Form von Lektinen ein.
Diese beeinflussen jedoch nicht nur Insekten oder Tiere, sondern auch den Menschen.
Die doppelte Natur der Fraßgifte
Die meisten Pflanzen enthalten Stoffe wie Tannine, Oxalate, Salicylate sowie eben Lektine, die ursprünglich gegen Fraßfeinde gerichtet sind.
Für Insekten oder kleinere Tiere, die viel empfindlicher auf diese Substanzen reagieren, können Lektine giftig sein.
Für den Menschen, der größere Körpermasse und eine komplexe Verdauung hat, sind diese Stoffe in kleinen Dosen oft kaum problematisch und sogar größtenteils unbedenklich.
Doch, und hier liegt die entscheidende Herausforderung, bei manchen Menschen führen diese Lektine zu erheblichen Beschwerden. Bei Schwächung der Darmbarriere, etwa durch Krankheit, Stress oder unzureichende Zubereitung, können Lektine in den Blutkreislauf gelangen und dort Zielstrukturen im Körper angreifen – seien es Darmzellen, Blutbestandteile oder Organe. Dies kann zu einer Vielzahl von Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen, Entzündungen oder Allergien führen.

Das ist auch der Grund, wieso ich mich mit Lektinen so gut auskenne. Als ich meine Arztpraxis mit Fokus auf funktionelle Langlebigkeitsmedizin vor vielen Jahren gründete, gab es eine Gruppe von Patientinnen und Patienten, denen ich schlecht helfen konnte. Ihnen brachte im Gegensatz zu den anderen auch eine Ernährungsumstellung nichts. Kein low-carb, keine vegane Ernährung, nicht einmal Kalorienzählen. Bis ich durch Recherchen realisierte, was das gemeinsame Problem aller dieser Diäten war: Es waren die Lektine. Und auf einer lektinfreien Ernährung blühten diese Patienten plötzlich auf, und ihre Entzündungsmarker rauschten in den Keller.
Mir ist deshalb wichtig, dass Sie aus diesem Artikel mitnehmen, dass es Lektine gibt, und dass sie gerade bei Menschen mit ungelösten Gesundheitsproblemen ein wichtiger Faktor sein können.

Lektine und Ernährung: Welche Lebensmittel sind betroffen?
Lektine kommen in einer Vielzahl von Lebensmitteln vor, darunter besonders in Nachtschattengewächsen wie Tomaten, Paprika, Auberginen und Kartoffeln. Auch Hülsenfrüchte wie Kidneybohnen, Linsen oder Kichererbsen enthalten erhebliche Mengen an Lektinen. Getreide, insbesondere jene Sorten mit hohem Glutenanteil, wie Weizen, haben ebenfalls lektinhaltige Komponenten. Dazu kommen Kürbisgewächse wie Gurken.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die ursprüngliche Zubereitung dieser Lebensmittel traditionell aufwendig ist: Einweichen, Fermentieren, Kochen bei hohen Temperaturen oder Keimen lassen. Doch unsere Vorfahren wussten oft, was wir vergessen haben.
Denn diese Prozesse reduzieren den Lektin-Gehalt erheblich. So wurden in früheren Zeiten Brote mit Sauerteig gebacken, das drei Tage lang fermentiert wurde. Hülsenfrüchte wurden über Nacht eingeweicht und in einem Schnellkochtopf zubereitet. Solche traditionellen Techniken ermöglichen die Reduktion von Lektinen auf ein verträgliches Maß. Wobei ich Sie darauf hinweisen muss: Lektine in der Ernährung zu reduzieren führt oft nur zu geringen klinischen Erfolgen.
Dazu kommt, dass bei einer Ernährungsumstellung auf »eigene Faust« leider so häufig Fehler gemacht werden, dass wir Patienten schon seit Jahren keine Lebensmittellisten mehr ausgeben, sondern sie ausschließlich durch ein strukturierte Programm bei der Umstellung auf lektinfreie Ernährung begleiten.

Wildpflanzen als natürliche Heilmittel
Man muss verstehen, dass die ersten Jäger und Sammler, die zu Bauern wurden, gerne lektinhaltige Pflanzen anbauten (wie Weizen, Bohnen oder Linsen), denn durch ihre Fraßgifte waren sie recht schädlingsresistent.
Wildpflanzen, die in ihrer ursprünglichen Form eher wenig nahrhaft sind, und durch die »fehlenden Lektine« anfälliger für Schädlinge sind, blieben von den ersten Bauern eher unbeachtet.
Doch viele wild wachsende Kräuter, Beeren und Wurzeln enthalten deutlich weniger oder gar keine Lektine, wenn sie richtig geerntet sind.
Darüber hinaus haben zahlreiche Wildpflanzen traditionell in der Naturheilkunde eingesetzt, um Entzündungen zu lindern, das Verdauungssystem zu stärken und das Immunsystem zu regulieren.
Beispiele sind Löwenzahn, Sauerampfer oder Gänseblümchen. Diese Pflanzen sind oft frei zugänglich, wachsen unhinterfragt am Wegesrand und sind, wenn richtig geerntet, frei von Pestiziden und künstlichen Zusätzen. Sie enthalten wertvolle sekundäre Pflanzenstoffe, die die Verdauung verbessern, die Darmflora unterstützen und die Abwehrkräfte stärken.
Doch es gibt auch viele lektinfreie Lebensmittel, die sich gut kultivieren lassen. Gute lektinfreie Kohlenhydratquellen sind beispielsweise Hirse oder Maniok, aber auch einfache Karotten zählen dazu. Insgesamt ist die Liste »erlaubter« lektinfreier Lebensmittel in dem Ernährungsplan meines Programms mehr als fünfmal so lang wie die der verbotenen.
Die Auswahl ist also groß – man muss sie nur klug treffen.
Die Bedeutung der traditionellen Zubereitung zur Lektinreduktion
Viele Kulturen haben über Jahrhunderte gelernt, wie man Lektine durch spezielle Zubereitungsmethoden unschädlich macht. Das Einweichen, Fermentieren, Keimen und Kochen bei hoher Temperatur zeichnet sich besonders aus. Das Backen von Sauerteigbrot beispielsweise ist nicht nur geschmacklich und kulturell wertvoll, sondern auch eine effiziente Methode, Lektine abzubauen.
Beim Kochen von Hülsenfrüchten nutzt man am besten Schnellkochtöpfe, um die Lektine zuverlässig zu reduzieren. Auch das Schälen und Entkernen von Nachtschattenpflanzen wie Tomaten oder Paprika senkt den Lektin-Gehalt erheblich. Viele Früchte, vor allem reifes Obst, sind in ihrer natürlich abgegebenen Form für den Verzehr bestens geeignet und durch die evolutionäre Entwicklung auf die Verbreitung durch Tiere – und damit auch für den Verzehr durch den Mensch – vorbereitet.
Autoimmunerkrankungen und Lektin-Unverträglichkeit
Ein zunehmendes Forschungsfeld zeigt, dass Lektine eine bedeutende Rolle in der Entstehung oder Verschlimmerung vieler Autoimmunerkrankungen spielen. Das Eindringen ungeplant in den Blutkreislauf verursacht Entzündungen, die wiederum Autoantikörper bewegen und die Grenzen zwischen Schaden und Heilung verwischen. Das ist eine der Hauptindikationen in meiner Arztpraxis, auf lektinfreie Ernährung zu setzen.
Menschen mit chronischen Verdauungsproblemen, Allergien oder Autoimmunerkrankungen berichten oft über eine deutliche Besserung, wenn sie ihre Ernährung lektinarm gestalten. Vieles lässt sich durch Blut- und Stuhltests nachweisen: erhöhte Entzündungswerte, Autoantikörper, ungesunde Darmbarriere und spezifische IgG- oder IgE-Antikörper gegen bestimmte Lebensmittel.
Praktische Umsetzung: Von Wildpflanzen und traditionellen Techniken lernen
Ein zentraler Hebel ist das Wissen um die richtige Zubereitung lektinhaltiger Pflanzen. Während Wildpflanzen wie Gänseblümchen, Sauerampfer oder Brennnesseln in frisch geernteter Form gegessen werden, muss man bei lektinhaltigen Lebensmitteln genau wissen, wie sie richtig zubereitet werden müssen. Und das bedeutet: Eine Tomate aufschneiden und auf Vollkornbrot vom Bäcker essen ist genauso problematisch wie Linsennudeln zu kaufen und nur für 5 Minuten zu kochen oder selbst aus ungeschälten Zucchini Nudeln zu machen.
Im Alltag lässt sich viel durch einfache Handgriffe verbessern: Einweichen von Hülsenfrüchten, Verwendung eines Schnellkochtopfs, Schälen und Entfernen von Samen und Schalen. Aber man muss Routine bekommen.
Die Kraft der Ernährung: Menschen wieder in die Hand nehmen
Der Fokus sollte darauf liegen, die Ernährung aktiv zu gestalten – weg vom passiven Konsum hochprozentiger verarbeiteter Lebensmittel und hin zu bewusster, traditioneller und wildpflanzenbasierter Ernährung. Das bedeutet, die eigenen Essgewohnheiten zu reflektieren, Zubereitungsprozesse zu optimieren und Wildpflanzen in den Speiseplan zu integrieren. Und insbesondere herauszufinden, welches Essen, das Sie »lieben« Sie auch zurückliebt. Denn Lektine tun das nicht. Lektine beschützen die »Babys der Pflanzen« – auch nach deren Ernte.
Viele Menschen berichten, dass nach der Umstellung auf lektinfreie Ernährung ihre Beschwerden wie Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Verdauungsprobleme oder Hauterkrankungen deutlich zurückgehen. Auch das Risiko für chronisch-entzündliche Krankheiten lässt sich durch die Vermeidung von problematischen Lektinen und die Nutzung von Wildpflanzen minimieren.
Zusammenfassung: Mehr Natur, mehr Gesundheit
Lektine sind ein wichtiger Bestandteil der Pflanzenabwehr. Das Wissen um ihre Wirkung, die traditionelle Zubereitung und die Nutzung authentischer Wildpflanzen sind entscheidende Schritte zu einem gesünderen Leben. Die bewusste Auswahl und Verarbeitung von Lebensmitteln, das Erforschen von Wildpflanzen und die Integration in die Ernährung ermöglichen eine nachhaltige Verbundenheit mit der Natur und eine signifikante Verbesserung der Gesundheit.
In einer Zeit, in der chronische Erkrankungen wie Autoimmunprozesse, Entzündungen und Allergien immer mehr zunehmen, bietet die Natur eine Fülle an Lösungen, die in jahrhunderteralter Tradition verwurzelt sind.
Fazit: Lernen wir wieder, die Kraft der Wildpflanzen und traditioneller Methoden zu nutzen. Sie sind Schlüssel zu einer lektinarmen Ernährung, die nicht nur unsere Gesundheit schützt, sondern auch unsere Verbindung zur Natur stärkt. Damit wird aus vermeintlichem Verzicht ein Empowerment – das Selbstbestimmte, bewusste Leben in Harmonie mit der Natur.
Und wenn Sie vielleicht eine Erkrankung und Beschwerden haben, und jetzt unsicher sind, ob eine lektinfreie Ernährung für Sie in Betracht kommt, alle die lade ich ein, sich meinen kostenlose Videokurs Was ist eigentlich ein Lektin und wie beeinflusst es meine Beschwerden? anzuschauen.
Ich erläutere Ihnen dazu noch einige weitere Hintergründe und gehe ab der 4. Kurseinheit auf spezifische Erkrankungen ein.
Wenn dich das Thema intressiert und du mehr erfahren möchtest, lege ich dir Dr. med. Christian Gerschs Bücher und Kurse ans Herz. Hier habe ich sie dir verlinkt:
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